Das Konzept der “educated person” geht auf die Bildungsanthropolog*innen Levinson & Holland zurück (1996) und ist ein hilfreiches theoretisches Werkzeug, um darüber nachzudenken, wie „Bildung“ gesellschaftlich definiert wird. Es eröffnet uns die Möglichkeit, über die vielen Arten und Weisen nachzudenken, auf die eine Person als un/gebildet angesehen wird.
Oft wird - in Europa und anderswo - eine ausgedehnte formale Bildung als Voraussetzung dafür gesehen, als "gebildet" angesehen zu werden. Wir neigen dazu, Jurist*innen als gebildeter anzusehen als Tischlermeister*innen und Mediziner*innen als gebildeter als Notaufnahme-Pflegekräfte. Weiterhin gibt es die Tendenz, Menschen mit praktischem Wissen, das auf langer Erfahrung beruht, als nicht wirklich "gebildet" zu betrachten. Doch obwohl Ärzte hochgebildet sind, kann sich vieles von dem, was sie wissen, im Maschinenraum eines Frachters, im Cockpit eines Flugzeugs oder auf der Musikbühne als nutzlos erweisen.
Das wirft wichtige Fragen auf: Wie lernen wir zu beurteilen wer gebildet ist? Und wer nicht? Welche Annahmen über Bildung leiten unser Denken? Die jeweiligen ortsspezifischen Definitionen einer "educated person" anthropologisch zu betrachten hilft uns darüber nachzudenken, ob die pädagogischen Ideale und Hierarchien, mit denen wir leben, sinnvoll und zweckmäßig sind, und wie wir sie gegebenenfalls umgestalten wollen.
Durch ihre Forschungen in unterschiedlich stark industrialisierten Gesellschaften auf der ganzen Welt haben Anthropolog*innen seit langem festgestellt, wie Institutionen der modernen Schulbildung, die von Missionaren, kolonialen oder nationalen Regierungen eingeführt wurden, dazu neigten, lokale Bildungssysteme zu missachten. Sie wurden oft als "minderwertig", "rückständig" oder "nutzlos" für kommende Generationen angesehen.
Schon früh untersuchte der deutsche Anthropologe Otto F. Raum (1940) in seiner Studie über das Bildungssystem der Gemeinschaft der Chaga im Kilimandscharo sowohl formell festgelegten Unterricht (wie z.B. Initiationsriten) als auch informelles Peer-to-Peer-Lernen unter Jungen, die das Vieh der Familie hüteten. Sein Ziel war es, das Bewusstsein für die indigenen Bildungssysteme unter den kolonialen Entscheidungsträgern zu schärfen, die sich für die Einführung einer formalen englischen Schulbildung nach europäischem Vorbild einsetzten. Raum unterscheidet dabei zwischen education (Bildung im weiteren Sinne) und schooling (Schulbildung im engeren Sinne).
So umfasst ein anthropologischer Bildungsbegriff auch alle allgemeinen, d.h. nicht-formalen Formen des Erwerbs und der Aneignung von Wissen, wie z.B. Sprache, Formen des sozialen Austauschs, emotionales und moralisches Verhalten, Spiritualität und Weltanschauung. Oder anders gesagt, alle erdenklichen Arten, uns auszudrücken und in Austausch mit anderen zu treten mussten einmal gelernt werden. Dieser Bildungsbegriff bezieht sich auch auf bestimmte Formen der Ausbildung und auf eine Reihe von Kriterien, die dazu dienen, Menschen als mehr oder weniger sachkundig oder qualifiziert zu identifizieren. In „The Cultural Production of the Educated Person“ beschreiben Levinson und Holland Bildung als "kulturspezifische Praktiken, durch die bestimmte Bündel von Fertigkeiten, Kenntnissen und Diskursen dazu führen, dass die vollständig ´gebildete´ Person definiert wird" (1996: 2). Schulbildung hingegen bezieht sich auf staatlich organisierte oder regulierte Institutionen des intentionalen Unterrichts, d.h. moderne Institutionen der Massenerziehung, sowohl private als auch öffentliche (vgl. Levinson und Holland 1996: 2f). Die modernen staatlichen Bildungssysteme, die in den 1800er Jahren und später eingerichtet wurden, standardisierten bestimmte Formen von Kenntnissen als anerkanntes "Wissen"; sie organisieren die Menschen in Alters- und/oder Fähigkeitsstufen und ordnen diese nach einer formalisierten Hierarchie von primären, sekundären und tertiären Stufen der Schulbildung.
Diese Unterscheidung zwischen education (Bildung) und schooling (Schulbildung) ist wichtig, um zu erkennen, dass Lernen in allen Aspekten des täglichen Lebens stattfindet und dass nicht alle Wege, Wissen zu erwerben, eine formale Schulbildung erfordern. Dies ist insbesondere in der heutigen Welt von Bedeutung, in der moderne Institutionen der nationalstaatlichen Schulbildung global geworden sind (Anderson-Levitt 2003).
Trotz des historischen Aufschwungs der öffentlichen Massenbildungssysteme, die eine einheitliche Form der Schulorganisation und einflussreiche Leitbilder von "Bildung" hervorbrachten, gibt es ständige Debatten um Definitionen von "Bildung" und was die educated person eigentlich ausmacht. Alle Gesellschaften haben eigene Modelle, wie man zu einer anerkannten educated person wird. Sowohl gesellschaftsübergreifend als auch innerhalb von Gesellschaften können sowohl majorisierte als auch minorisierte Gruppen, die durch Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Religion usw. definiert werden, ihre eigenen unterschiedlichen Vorstellungen von einer educated person und bevorzugten Wissensformen und Bereiche entwickeln (Levinson und Holland 1996: 21). Diese können sowohl innerhalb als auch außerhalb des schulischen Umfelds entwickelt werden, und zwar sowohl in Erweiterung als auch im Gegensatz zu den vorherrschenden Vorstellungen von der educated person (Luttrell 1996).
Schulen und andere Orte der Kinder- und Jugenderziehung sind auch immer umkämpfte Stätten kultureller (Re-)Produktion. Politiker*innen, Pädagog*innen, Eltern und viele andere Beteiligte sind sich nicht unbedingt einig über eine Definition von Bildung oder darüber, was "gebildet werden" bedeuten soll. Wissenschaftler*innen debattieren immer noch, ob Schulen die Schüler*innen ermächtigen oder disziplinieren (vgl. Jules Henry), und kritisieren, wie persönliche Schicksale von "Erfolg" oder "Misserfolg" durch die Schulbildung beeinflusst werden (vgl. Varenne und McDermott). Ein weiterer Kritikpunkt ist die moralische und ökonomische Rangordnung verschiedener "verschulter Identitäten" und wie sich diese auf das Leben und die Lebensgrundlagen der Menschen auswirken (Valentin 2003).
Das theoretische Konzept der educated person ist nützlich, um 1) privilegierte Vorstellungen von richtigem Wissen und Verhalten zu hinterfragen und 2) ein breiteres Spektrum an Vorstellungen von dem, was Bildung bedeutet, auf den Tisch zu bringen (Siehe hierzu auch Funds of Knowledge). Die Erforschung der "cultural production of the educated person" (nach Levinson und Holland 1996) ermöglicht es uns, besser zu verstehen, wie vorherrschende Vorstellungen von Bildung in den Praktiken des Alltagslebens ständig in Frage gestellt, angefochten und auch verändert werden.
Generell lässt sich sagen, dass die Messung der "Reife" eines Kindes anhand des chronologischen Alters, aufgeschlüsselt in Monate, keineswegs ein natürliches globales Phänomen ist. "Fünf- und Dreiviertel" Jahre alt zu sein, ist eine kulturspezifische Methode zur Messung der Kindheit, die durch die Einschulung von Kindern in modernen Einrichtungen wie Schulen, Sommerlagern, Sport- und anderen Freizeiteinrichtungen an Bedeutung gewonnen hat. Kathryn Anderson-Levitt´s lesenswerte Ethnographie über die Art und Weise, wie Schulen Kinder "am Fließband" produzieren, hinterfragt kritisch die Praxis der Charakterisierung von Kindern als "jung" oder "alt" auf der Grundlage eines chronologischen Alters, das genau in Monaten gemessen wird. Ebenfalls hinterfragt sie, ob die schwer fassbaren Begriffe "geistiges Alter", "Reife" und "Niveau" mit gleicher Präzision gemessen werden können (1996: 57). In ethnographischen Studien über Leseklassen in Frankreich und den USA konzentriert sie sich darauf, wie Lehrer die Begriffe "Alter" und "Reife" verwenden, um den "Fortschritt" eines Schülers zu bewerten und festzustellen, ob er "vor", "pünktlich" oder "hinter" dem Zeitplan liegt. Anderson-Levitt weist darauf hin, dass dieses neuartige Modell der Kindheit und die Fixierung auf Alter und Reife eine kulturelle Konstruktion ist. Diese hat zur Folge, dass solch eine "Fließband-ähnliche" Organisation der Massenschulbildung mit Maßnahmen für die Klassifizierung der Kinder einer "Rennstrecke" ähnelt (1996: 57f).
In "Becoming Somebody in and against School" befasst sich Wendy Luttrell (1996) mit dieser wichtigen Frage, wie Menschen ihre Identitäten sowohl im Einklang mit Schulen als auch in der Ablehnung von Schulen selbst gestalten. Ausgehend von einer ethnographischen Studie über Frauen, die in zwei US-Städten in der Erwachsenenbildung eingeschrieben sind, zeigt sie auf, wie Frauen davon sprechen, in die Schule zurückzukehren, um einen High-School-Abschluss zu erlangen, um das "Selbst zu verbessern" und sich schließlich "als jemand zu fühlen".
Worauf sich "sich wie jemand fühlen" in verschiedenen Kontexten bezieht, hängt davon ab, wie Bildungs- und beruflicher "Erfolg" kulturell verstanden wird. An Orten, an denen Menschen gelernt haben, sich als "rückständig" zu identifizieren, kann Erfolg an der Erlangung einer "schulischen Identität" gemessen werden. Laura Rivals Studie (1996) über "moderne Schulbildung" versus "Waldpädagogik" bei den Huaoroni im ecuadorianischen Amazonasgebiet gibt einen einzigartigen Einblick in die Art und Weise, wie die im Wald erzogenen Huaoroni, die danach streben, "modern" zu werden, eine staatliche Schulbildung annehmen. Diese verändert wiederum ihre alltäglichen Gewohnheiten in Bezug auf Essen, Kleidung und Körperpflege, ihre sozialen Praktiken, Werte und Überzeugungen. Sie werden neu organisiert und so entstehen neue soziale Identitäten. Rival zeigt, wie die Einführung der staatlichen Schulbildung in einem Dorf eine neue soziale Unterscheidung zwischen den "rückständigen" Bewohner*innen des Waldes und den "modernen" Bürger*innen der Stadt einführt.
Karen Valentins Arbeit (2003) in einer besetzten Siedlung in Kathmandu offenbart ähnliche Wünsche und Dilemmata beim Streben nach einer "geschulten Identität". Hier hatten Jugendliche hohe Erwartungen, dass eine "geschulte Person" ihre Chancen auf Beschäftigung, wirtschaftliche Sicherheit und größeres soziales Prestige verbessern würde. Jugendliche, die eine formale Schulbildung erhielten, fanden sich zwischen zwei Welten wieder: der Einhaltung konventioneller Kastenpraktiken durch ihre Eltern und der egalitären Idealvorstellung, die von NGOs und Schulen gefördert wird. Unterscheidungen von modern/traditionell, städtisch/ländlich oder geschult/ungeschult spielten in die Art und Weise hinein, wie sich Jugendliche aufgrund ihrer geschulten Identität im Gegensatz zur Generation ihrer Eltern definierten. Dies wiederum führte dazu, dass sie als Popstars und Schauspieler*innen mit kastenübergreifenden Ehen und neuen Lebensstilen experimentierten. Valentins Studie erinnert uns daran, dass die educated person zwar an bestimmten Orten kulturell geprägt wird, aber auch neue kulturelle Formen hervorbringt (Vgl. Levinson und Holland 1996).
Bildung, Wissen, Funds of Knowledge, Privilegien, schooling, Sozialisation, Identität
Levinson, B.A., D. E. Foley and D. C. Holland (1996) The Cultural Production of the Educated Person. Critical Ethnographies of Schooling and Local Practice, edited by B. Levinson, D. E. Foley and D. Holland, Albany, NY: SUNY Press.
Levinson, B.A and D. Holland (1996) The Cultural Production of the Educated Person: An Introduction. In The Cultural Production of the Educated Person. Critical Ethnographies of Schooling and Local Practice, edited by B. Levinson, D. E. Foley and D. Holland, Albany, NY: SUNY Press, 1-56.
Anderson-Levitt K.M. (1996) Behind Schedule: Batch-Produced Chidren in French and U.S. Classrooms. In The Cultural Production of the Educated Person. Critical Ethnographies of Schooling and Local Practice, edited by B. Levinson, D. E. Foley and D. Holland, Albany, NY: SUNY Press, p. 57-78.
Anderson-Levitt K. M. (2003) A World Culture of Schooling? In Local Meanings, Global Schooling, edited byAnderson-Levitt K.M., New York: Palgrave Macmillan, 1-26.
Luttrell, W. (1996) Becoming Somebody in and against School: Toward a Psychocultural Theory of Gender and Self Making. In The Cultural Production of the Educated Person. Critical Ethnographies of Schooling and Local Practice, edited by B. Levinson, D. E. Foley and D. Holland, Albany, NY: SUNY Press, 93-118.
Raum, O.F. (1940) Chaga Childhood. A Description of Indigenous Education in an East African Tribe, London, New York and Toronto: Oxford University Press.
Varenne. H. and R. McDermott (1999) Successful Failure. The School America Builds, Boulder, CO: Westview Press.
Supplementary Ethnographic Reading
Rival, L. (1996) Formal Schooling and the Production of Modern Citizens in the Ecuadorian Amazon. In The Cultural Production of the Educated Person. Critical Ethnographies of Schooling and Local Practice, edited by B. Levinson, D. E. Foley and D. Holland, Albany, NY: SUNY Press, 153-168.
Valentin, K. (2005) The ‘Schooled Person’: Negotiating Caste and Generation. In Schooled for the Future? Educational Policy and Everyday Life Among Urban Squatters in Nepal, Information Age Press, 155-182.
Sally Anderson (Dänemark)
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